Ostseeatem

Prosaband von Alexander Peer und Erwin Uhrmann
 

Sich selbst neu zu erleben ist der Charakter jeder Reise, jeder Begegnung. Die Ostsee bildet den geographischen Raum der Erzählungen aus "Ostseeatem". Reisen, Ankünfte und Abschiede sind thematische Schwerpunkte dieses Prosabands mit Texten zweier Baltikum-Reisender. 
Vilnius, Riga und Tallinn spielen in fast allen Texten zentrale Rollen. Es ist jedoch kein Buch über das Baltikum, sondern ein Buch, welches das Baltikum mitgeschrieben hat. Ein Buch, in dem noch einmal der Mythos vom geheimnisvollen Baltikum intakt davon kommt.

Von Kriegs- und Nachkriegsdramen ist hier die Rede bis zur unmittelbaren Gegenwart von Ländern an der Peripherie von Ost und West, die über Jahrhunderte Spielbälle der sie umgebenden Großmächte waren. Zum Schluss findet sich im Band sogar ein Gedicht: Die Datschas. Einmal mehr macht ein Text Mut, von einem vereinten Europa zu träumen.

„Sprachlos sind wir immer dann, wenn wir etwas zu sagen hätten“, heißt es hingegen in der melancholischen Kurzgeschichte Meines Großvaters Schoß, die von einem schweigsamen, durch die Kriegsjahre mutlos und verknöchert gewordenen Mann erzählt, der durch die kindliche Unbefangenheit des Enkels wieder Zugang zu Gefühlen findet. In diesem Buch finden das Vergessene eine intime Sprache und dadurch einen Platz.

Leseprobe

"Über die Neigung sich in der Ferne zu verlieben"

von Alexander Peer

 

16. Oktober - Nacht

(...) Wir tanzten und es war schon die Hälfte des Liebesakts. Später irrten wir durch die Stadt, wir konnten nicht zu ihr, da sie nicht allein wohnte, meine Herberge schied aus ästhetischen Gründen aus und ich holte die letzten verbleibenden 100 Euro aus meiner Brieftasche, um sie dem nächsten Rezeptionisten eines Hotels eilig aufzudrängen; rasch der Griff zu einem Kärtchen, „do not disturb“.

17. Oktober – Mittag

Wir haben Hunger, essen aber nichts. Wir versuchen zu reden, schaffen es aber nicht. Ich bin gelähmt und sitze mit Dornröschen in einem Café, ich komme nicht hin zu ihr, um sie aus ihrer Erstarrung wach zu küssen. Wir gehen durch die Stadt, wollen uns in Bewegung verlieren und finden uns im Festhalten. Gleichzeitig baut die Skepsis kleine Schutzbunker, was soll denn schon daraus werden?
Die Distanzierung versichert sich ihrer Rechtmäßigkeit.

18. Oktober – Nachmittag

Wieder rauschen Felder an mir vorbei und das Gepolter der Geleise ist der Meisel, der mein Herz bearbeitet. Mit jedem Meter wird es kleiner, es soll keine Form herausgeschlagen werden, es soll abgetragen werden. Hier, auf der Strecke von Vilnius nach Warschau, soll es zerstückelt ausgestreut werden. Werden das die Kieselsteine sein, die mich zurückführen?
Ich weiß nichts von Gintaré, vielleicht brauche ich das, nichts zu wissen, vielleicht brauche ich diese letzte Verbindung zu einer Jugend, die sonst für immer verloren wäre.
Vielleicht ist es gut, dass sie meine Adresse hat und vielleicht schreibt sie mir. Vielleicht werde ich zurückkommen. Vielleicht bald. Vielleicht sollte ich sie langsam dem Vergessen überantworten, als könnte man seine Hausaufgaben so einfach auf das Pult eines unbekannten Nachbarn legen und hoffen, dass sich dieser der Sache annimmt. Vielleicht gibt es das, ein Ankommen bei gleichzeitigem Unterwegssein.

  • Beispiele - Neue Literatur aus Österreich

    Hörprobe aus "Über die Neigung sich in der Ferne zu verlieben", Ö1