Odysseus aus Milwaukee

Stattlich und dreist erschien Chuck Bulligan auf dem First seines Schrägdaches, eine Keramikschale mit Schlagsahne unter die Achsel geklemmt, einen speckigen Kamm mit den gefletschten Zähnen und einen Hut mit Wanderabzeichen auf dem Kopf. Ein grünes Jackett mit abgerissenen Knöpfen baumelte – schon außer Form geraten – im nach-mittäglichen Luftzug, der vom Michigansee herüber wehte. Er nahm den Becher in beide Hände, spuckte seinen Kamm aus und intonierte: Ohne Sahne ist alles grauer Schnee …

Die Odyssey Patisserie in the Third Ward hatte ganze Arbeit geleistet.

Der Duft der Desserts demaskierte den draufgängerischen Dachbesteiger.

Man kann dies wunderlich nennen. Aber: sein Fieber! Chuck stellte die Schale Sahne auf den Rand des Schornsteins und balancierte den First des Daches entlang. Er hielt das Gleichgewicht. Er schöpfte aus dem Übermut. Er hatte den Gleichmut abgelegt, doch sein Übergewicht war ihm geblieben.

Wann, wenn nicht jetzt, mochte er sich denken? Jetzt, da die Tausend Seiten fertig waren! Es war ihm eine Neue Welt gelungen. Jetzt, da er zurückblickte, er Zigarettenasche über Zigarettenasche über das Manuskript verstreut und einige Hundert Liter schwarzen Kaffees getrunken hatte und man ihn dennoch nie Balzac nannte.  (...)

Das Wort Aneignung erfreut sich ja reger Verwendung. In "Odysseus aus Milwaukee" habe ich einen verspielten Bezug zum Ulysses von Joyce als Ausgang eines Epos in Miniaturform verwendet. Dieser Text wurde für die aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Die Rampe" ausgewählt. Tatsächlich ist es wohl mehr eine Paraphrasierung denn eine Aneignung. Ein einerseits durchgeknallter Text, andererseits eine Schnitzeljagd voller Bezüge und assoziativer Rittberger. Thema des gelungenen Heftes: "Neue Welt".
Diese Themenvorgabe ist in meinem Beitrag auf mehreren Ebenen eingelöst. Der Roman an sich vermittelt dieses Versprechen einer neuen Welt. Das Schreiben als Manifestation der Idee der ewigen Wiederkehr.

Die Rampe

neue Welt

Hefte für Literatur 2-2023

Das diesjährige Rampe-Themenheft steht unter dem Zeichen „Neue Welt“. Es präsentiert aus zahlreichen Einsendungen ausgewählte Beiträge von Autor*innen. Die Auswahl traf eine unabhängige, externe Jury, bestehend aus Marie Luise Lehner (Autorschaft), Fermin Suter (Literaturwissenschaft) und Tanja Raich (Literaturbetrieb).

Die Beiträger*innen des Jahres 2023: Clemens Braun, Sabine Dengscherz, Martin Dragosits, Peter Enzinger, Dea Gersak, Markus Grundtner, Marianne Jungmair, Claudia Klingenschmid, Kerstin Nethövel, Katrin Oberhofer, Alexander Peer, Benjamin Rizy, Jennifer Sandhagen und Sigune Schnabel